Gesammeltes Märchen
der Brüder Grimm
Die Gänsehirtin
am Brunnen
Es war einmal ein steinaltes Mütterchen, das lebte mit
seiner Herde Gänse in einer Einöde zwischen Bergen
und hatte da ein kleines Haus. Die Einöde war von einem
großen Wald umgeben, und jeden Morgen nahm die Alte ihre
Krücke und wackelte in den Wald. Da war aber das Mütterchen
ganz geschäftig, mehr als man ihm bei seinen hohen Jahren
zugetraut hätte, sammelte Gras für seine Gänse,
brach sich das wilde Obst ab, so weit es mit den Händen
reichen konnte, und trug alles auf seinem Rücken heim.
Man hätte meinen sollen, die schwere Last müßte
sie zu Boden drücken, aber sie brachte sie immer glücklich
nach Haus. Wenn ihr jemand begegnete, so grüßte sie
ganz freundlich 'guten Tag, lieber Landsmann, heute ist schönes
Wetter. Ja, Ihr wundert Euch, daß ich das Gras schleppe,
aber jeder muß seine Last auf den Rücken nehmen.'
Doch die Leute begegneten ihr nicht gerne und nahmen lieber
einen Umweg, und wenn ein Vater mit seinem Knaben an ihr vorüberging,
so sprach er leise zu ihm 'nimm dich in acht vor der Alten,
die hats faustdick hinter den Ohren: es ist eine Hexe.'
Eines Morgens ging ein hübscher junger Mann durch den
Wald. Die Sonne schien hell, die Vögel sangen, und ein
kühles Lüftchen strich durch das Laub, und er war
voll Freude und Lust. Noch war ihm kein Mensch begegnet, als
er plötzlich die alte Hexe erblickte, die am Boden auf
den Knien saß und Gras mit einer Sichel abschnitt. Eine
ganze Last hatte sie schon in ihr Tragtuch geschoben, und daneben
standen zwei Körbe, die mit wilden Birnen und Äpfeln
angefüllt waren. 'Aber Mütterchen,' sprach er, 'wie
kannst du das alles fortschaffen?, 'Ich muß sie tragen,
lieber Herr,' antwortete sie, 'reicher Leute Kinder brauchen
es nicht. Aber beim Bauer heißts
schau dich nicht um,
dein Buckel ist krumm.
Wollt Ihr mir helfen?' sprach sie, als er bei ihr stehen blieb,
'Ihr habt noch einen geraden Buckel und junge Beine, es wird
Euch ein leichtes sein. Auch ist mein Haus nicht so weit von
hier: hinter dem Berge dort steht es auf einer Heide. Wie bald
seid Ihr da hinaufgesprungen.' Der junge Mann empfand Mitleiden
mit der Alten, 'zwar ist mein Vater kein Bauer,' antwortete
er, 'sondern ein reicher Graf, aber damit Ihr seht, daß
die Bauern nicht allein tragen können, so will ich Euer
Bündel aufnehmen.' 'Wollt Ihrs versuchen,' sprach sie,
'so soll mirs lieb sein. Eine Stunde weit werdet Ihr freilich
gehen müssen, aber was macht Euch das aus! Dort die Äpfel
und Birnen müßt Ihr auch tragen.' Es kam dem jungen
Grafen doch ein wenig bedenklich vor, als er von einer Stunde
Wegs hörte, aber die Alte ließ ihn nicht wieder los,
packte ihm das Tragtuch auf den Rücken und hing ihm die
beiden Körbe an den Arm. 'Seht Ihr, es geht ganz leicht,'
sagte sie. 'Nein, es geht nicht leicht,' antwortete der Graf
und machte ein schmerzliches Gesicht, 'der Bündel drückt
ja so schwer, als wären lauter Wackersteine darin, und
die Äpfel und Birnen haben ein Gewicht, als wären
sie von Blei; ich kann kaum atmen.' Er hatte Lust, alles wieder
abzulegen, aber die Alte ließ es nicht zu. 'Seht einmal,'
sprach sie spöttisch, 'der junge Herr will nicht tragen,
was ich alte Frau schon so oft fortgeschleppt habe. Mit schönen
Worten sind sie bei der Hand, aber wenns Ernst wird, so wollen
sie sich aus dem Staub machen. Was steht Ihr da,' fuhr sie fort,
'und zaudert, hebt die Beine auf. Es nimmt Euch niemand den
Bündel wieder ab.' Solange er auf ebener Erde ging, wars
noch auszuhalten, aber als sie an den Berg kamen und steigen
mußten, und die Steine hinter seinen Füßen
hinabrollten, als wären sie lebendig, da gings über
seine Kräfte. Die Schweißtropfen standen ihm auf
der Stirne und liefen ihm bald heiß, bald kalt über
den Rücken hinab. 'Mütterchen,' sagte er, 'ich kann
nicht weiter, ich will ein wenig ruhen.' 'Nichts da,' antwortete
die Alte, 'wenn wir angelangt sind, so könne Ihr ausruhen,
aber jetzt müßt Ihr vorwärts. Wer weiß,
wozu Euch das gut ist.' 'Alte, du wirst unverschämt,' sagte
der Graf und wollte das Tragtuch abwerfen, aber er bemühte
sich vergeblich: es hing so fest an seinem Rücken, als
wenn es angewachsen wäre. Er drehte und wendete sich, aber
er konnte es nicht wieder loswerden. Die Alte lachte dazu und
sprang ganz vergnügt auf ihrer Krücke herum. 'Erzürnt
Euch nicht, lieber Herr,' sprach sie, 'Ihr werdet ja so rot
im Gesicht wie ein Zinshahn. Tragt Euern Bündel mit Geduld,
wenn wir zu Hause angelangt sind, so will ich Euch schon ein
gutes Trinkgeld geben.' Was wollte er machen? er mußte
sich in sein Schicksal fügen und geduldig hinter der Alten
herschleichen. Sie schien immer flinker zu werden und ihm seine
Last immer schwerer. Auf einmal tat sie einen Satz, sprang auf
das Tragtuch und setzte sich obendarauf; wie zaundürre
sie war, so hatte sie doch mehr Gewicht als die dickste Bauerndirne.
Dem Jünglinge zitterten die Knie, aber wenn er nicht fortging,
so schlug ihn die Alte mit einer Gerte und mit Brennesseln auf
die Beine. Unter beständigem Ächzen stieg er den Berg
hinauf und langte endlich bei dem Haus der Alten an, als er
eben niedersinken wollte. Als die Gänse die Alte erblickten,
streckten sie die Flügel in die Höhe und die Hälse
voraus, liefen ihr entgegen und schrien ihr 'wulle, wulle.'
Hinter der Herde mit einer Rute in der Hand ging eine bejahrte
Trulle, stark und groß, aber häßlich wie die
Nacht. 'Frau Mutter,' sprach sie zur Alten, 'ist Euch etwas
begegnet? Ihr seid so lange ausgeblieben.' 'Bewahre, mein Töchterchen,'
erwiderte sie, 'mir ist nichts Böses begegnet, im Gegenteil,
der liebe Herr da hat mir meine Last getragen; denk d ir, als
ich müde war, hat er mich selbst noch auf den Rücken
genommen. Der Weg ist uns auch gar nicht lang geworden, wir
sind lustig gewesen und haben immer Spaß miteinander gemacht.'
Endlich rutschte die Alte herab, nahm dem jungen Mann den Bündel
vom Rücken und die Körbe vom Arm, sah ihn ganz freundlich
an und sprach 'nun setzt Euch auf die Bank vor die Türe
und ruht Euch aus. Ihr habt Euern Lohn redlich verdient, der
soll auch, nicht ausbleiben.' Dann sprach sie zu der Gänsehirtin
'geh du ins Haus hinein, mein Töchterchen, es schickt sich
nicht, daß du mit einem jungen Herrn allein bist, man
muß nicht Öl ins Feuer gießen; er könnte
sich in dich verlieben.' Der Graf wußte nicht, ob er weinen
oder lachen sollte. 'Solch ein Schätzchen,' dachte er,
'und wenn es dreißig Jahre jünger wäre, könnte
doch mein Herz nicht rühren.' Indessen hätschelte
und streichelte die Alte ihre Gänse wie Kinder und ging
dann mit ihrer Tochter in das Haus. Der Jüngling streckte
sich auf die Bank unter einem wilden Apfelbaum. Die Luft war
lau und mild: ringsumher breitete sich eine grüne Wiese
aus, die mit Himmelsschlüsseln, wildem Thymian und tausend
andern Blumen übersät war: mittendurch rauschte ein
klarer Bach, auf dem die Sonne glitzerte: und die weißen
Gänse gingen auf und ab spazieren oder pudelten sich im
Wasser. 'Es ist recht lieblich hier,' sagte er, 'aber ich bin
so müde, daß ich die Augen nicht aufbehalten mag:
ich will ein wenig schlafen. Wenn nur kein Windstoß kommt
und bIäst mir meine Beine vom Leib weg, denn sie sind mürb
wie Zunder.'
Als er ein Weilchen geschlafen hatte, kam die Alte und schüttelte
ihn wach. 'Steh auf,' sagte sie, 'hier kannst du nicht bleiben.
Freilich habe ich dirs sauer genug gemacht, aber das Leben hats
doch nicht gekostet. Jetzt will ich dir deinen Lohn geben, Geld
und Gut brauchst du nicht, da hast du etwas anderes.' Damit
steckte sie ihm ein Büchslein in die Hand, das aus einem
einzigen Smaragd geschnitten war. 'Bewahrs wohl,' setzte sie
hinzu, 'es wird dir Glück bringen.' Der Graf sprang auf,
und da er fühlte, daß er ganz frisch und wieder bei
Kräften war, so dankte er der Alten für ihr Geschenk
und machte sich auf den Weg, ohne nach dem schönen Töchterchen
auch nur einmal umzublicken. Als er schon eine Strecke weg war,
hörte er noch aus der Ferne das lustige Geschrei der Gänse.
Der Graf mußte drei Tage in der Wildnis herumirren, ehe
er sich herausfinden konnte. Da kam er in eine große Stadt,
und weil ihn niemand kannte, ward er in das königliche
Schloß geführt, wo der König und die Königin
auf dem Thron saßen. Der Graf ließ sich auf ein
Knie nieder, zog das smaragdene Gefäß aus der Tasche
und legte es der Königin zu Füßen. Sie hieß
ihn aufstehen, und er mußte ihr das Büchslein hinaufreichen.
Kaum aber hatte sie es geöffnet und hineingeblickt, so
fiel sie wie tot zur Erde. Der Graf ward von den Dienern des
Königs festgehalten und sollte in das Gefängnis geführt
werden, da schlug die Königin die Augen auf und rief, sie
sollten ihn freilassen, und jedermann sollte hinausgehen, sie
wollte insgeheim mit ihm reden.
Als die Königin allein war, fing sie bitterlich an zu
weinen und sprach 'was hilft mir Glanz und Ehre, die mich umgeben,
jeden Morgen erwache ich mit Sorgen und Kummer. Ich habe drei
Töchter gehabt, davon war die jüngste so schön,
daß sie alle Welt für ein Wunder hielt. Sie war so
weiß wie Schnee, so rot wie Apfelblüte, und ihr Haar
so glänzend wie Sonnenstrahlen. Wenn sie weinte, so fielen
nicht Tränen aus ihren Augen, sondern lauter Perlen und
Edelsteine. Als sie fünfzehn Jahr alt war, da ließ
der König alle drei Schwestern vor seinen Thron kommen.
Da hättet Ihr sehen sollen, was die Leute für Augen
machten, als die jüngste eintrat, es war als wenn die Sonne
aufging. Der König sprach 'meine Töchter, ich weiß
nicht, wann mein letzter Tag kommt, ich will heute bestimmen,
was eine jede nach meinem Tode erhalten soll. Ihr alle habt
mich lieb, aber welche mich von euch am liebsten hat, die soll
das Beste haben.' Jede sagte, sie hätte ihn am liebsten.
'Könnt ihr mirs nicht ausdrücken,' erwiderte der König,
'wie lieb ihr mich habt? daran werde ichs sehen, wie ihrs meint.'
Die älteste sprach 'ich habe den Vater so lieb wie den
süßesten Zucker.' Die zweite 'ich habe den Vater
so lieb wie mein schönstes Kleid.' Die jüngste aber
schwieg. Da fragte der Vater 'und du, mein liebstes Kind, wie
lieb hast du mich?, 'Ich weiß es nicht,' antwortete sie,
'und kann meine Liebe mit nichts vergleichen.' Aber der Vater
bestand darauf, sie müßte etwas nennen. Da sagte
sie endlich 'die beste Speise schmeckt mir nicht ohne Salz,
darum habe ich den Vater so lieb wie Salz.' Als der König
das hörte, geriet er in Zorn und sprach 'wenn du mich so
liebst als Salz, so soll deine Liebe auch mit Salz belohnt werden.'
Da teilte er das Reich zwischen den beiden ältesten, der
jüngsten aber ließ er einen Sack mit Salz auf den
Rücken binden, und zwei Knechte mu ßten sie hinaus
in den wilden Wald führen. Wir haben alle für sie
gefleht und gebeten,' sagte die Königin, 'aber der Zorn
des Königs war nicht zu erweichen. Wie hat sie geweint,
als sie uns verlassen mußte! der ganze Weg ist mit Perlen
besät worden, die ihr aus den Augen geflossen sind. Den
König hat bald hernach seine große Härte gereut,
und hat das arme Kind in dem ganzen Wald suchen lassen, aber
niemand konnte sie finden. Wenn ich denke, daß sie die
wilden Tiere gefressen haben, so weiß ich mich vor Traurigkeit
nicht zu fassen; manchmal tröste ich mich mit der Hoffnung,
sie sei noch am Leben und habe sich in einer Höhle versteckt
oder bei mitleidigen Menschen Schutz gefunden. Aber stellt Euch
vor, als ich Euer Smaragdbüchslein aufmachte, so lag eine
Perle darin, gerade der Art, wie sie meiner Tochter aus den
Augen geflossen sind, und da könnt Ihr Euch vorstellen,
wie mir der Anblick das Herz bewegt hat. Ihr sollt mir sagen,
wie Ihr zu der Perle gekommen seid.' Der Graf erzählte
ihr, daß er sie von der Alten im Walde erhalten hätte,
die ihm nicht geheuer vorgekommen wäre und eine Hexe sein
müßte; von ihrem Kinde aber hätte er nichts
gehört und gesehen. Der König und die Königin
faßten den Entschluß, die Alte aufzusuchen; sie
dachten, wo die Perle gewesen wäre, da müßten
sie auch Nachricht von ihrer Tochter finden.
Die Alte saß draußen in der Einöde bei ihrem
Spinnrad und spann. Es war schon dunkel geworden, und ein Span,
der unten am Herd brannte, gab ein sparsames Licht. Auf einmal
wards draußen laut, die Gänse kamen heim von der
Weide und ließen ihr heiseres Gekreisch hören. Bald
hernach trat auch die Tochter herein. Aber die Alte dankte ihr
kaum und schüttelte nur ein wenig mit dem Kopf. Die Tochter
setzte sich nieder, nahm ihr Spinnrad und drehte den Faden so
flink wie ein junges Mädchen. So saßen beide zwei
Stunden, und sprachen kein Wort miteinander. Endlich raschelte
etwas am Fenster und zwei feurige Augen glotzten herein. Es
war eine alte Nachteule, die dreimal 'uhu, schrie. Die Alte
schaute nur ein wenig in die Höhe, dann sprach sie 'jetzt
ists Zeit, Töchterchen, daß du hinausgehst, tu deine
Arbeit.'
Sie stand auf und ging hinaus. Wo ist sie denn hingegangen?,
Über die Wiesen immer weiter bis in das Tal. Endlich kam
sie zu einem Brunnen, bei dem drei alte Eichbäume standen.
Der Mond war indessen rund und groß über dem Berg
aufgestiegen, und es war so hell, daß man eine Stecknadel
hätte finden können. Sie zog eine Haut ab, die auf
ihrem Gesicht lag, bückte sich dann zu dem Brunnen und
fing an sich zu waschen. Als sie fertig war, tauchte sie auch
die Haut in das Wasser und legte sie dann auf die Wiese, damit
sie wieder im Mondschein bleichen und trocknen sollte. Aber
wie war das Mädchen verwandelt! So was habt ihr nie gesehen!
Als der graue Zopf abfiel, da quollen die goldenen Haare wie
Sonnenstrahlen hervor und breiteten sich, als wärs ein
Mantel, über ihre ganze Gestalt. Nur die Augen blitzten
heraus so glänzend wie die Sterne am Himmel, und die Wangen
schimmerten in sanfter Röte wie die Apfelblüte.
Aber das schöne Mädchen war traurig. Es setzte sich
nieder und weinte bitterlich. Eine Träne nach der andern
drang aus seinen Augen und rollte zwischen den langen Haaren
auf den Boden. So saß es da und wäre lange sitzen
geblieben, wenn es nicht in den Ästen des nahestehenden
Baumes geknittert und gerauscht hätte. Sie sprang auf wie
ein Reh, das den Schuß des Jägers vernimmt. Der Mond
ward gerade von einer schwarzen Wolke bedeckt, und im Augenblick
war das Mädchen wieder in die alte Haut geschlüpft,
und verschwand wie ein Licht, das der Wind ausbläst.
Zitternd wie ein Espenlaub lief sie zu dem Haus zurück.
Die Alte stand vor der Türe, und das Mädchen wollte
ihr erzählen, was ihm begegnet war, aber die Alte lachte
freundlich und sagte 'ich weiß schon alles.' Sie führte
es in die Stube und zündete einen neuen Span an. Aber sie
setzte sich nicht wieder zu dem Spinnrad, sondern sie holte
einen Besen und fing an zu kehren und zu scheuern. 'Es muß
alles rein und sauber sein,' sagte sie zu dem Mädchen.
'Aber, Mutter,' sprach das Mädchen, 'warum fangt Ihr in
so später Stunde die Arbeit an? was habt Ihr vor!' 'Weißt
du denn, welche Stunde es ist?, fragte die Alte. 'Noch nicht
Mitternacht,' antwortete das Mädchen, 'aber schon elf Uhr
vorbei.' 'Denkst du nicht daran,' fuhr die Alte fort, 'daß
du heute vor drei Jahren zu mir gekommen bist? Deine Zeit ist
aus, wir können nicht Iänger beisammen bleiben.' Das
Mädchen erschrak und sagte 'ach, liebe Mutter, wollt Ihr
mich verstoßen? wo soll ich hin? ich habe keine Freunde
und keine Heimat, wohin ich mich wenden kann. Ich habe alles
getan, was Ihr verlangt habt, und Ihr seid immer zufrieden mit
mir gewesen: schickt mich nicht fort.' Die Alte wollte dem Mädchen
nicht sagen, was ihm bevorstand. 'Meines Bleibens ist nicht
länger hier,' sprach sie zu ihm, 'wenn ich aber ausziehe,
muß Haus und Stube sauber sein: darum halt mich nicht
auf in meiner Arbeit. Deinetwegen sei ohne Sorgen, du sollst
ein Dach finden, unter dem du wohnen kannst, und mit dem Lohn,
den ich dir geben will, wirst du auch zufrieden sein.' 'Aber
sagt mir nur, was ist vor?' fragte das Mädchen weiter.
'Ich sage dir nochmals, störe mich nicht in meiner Arbeit.
Rede kein Wort weiter, geh in deine Kammer, nimm die Haut vom
Gesicht und zieh das seidene Kleid an, das du trugst, als du
zu mir kamst, und dann harre in deiner Kammer, bis ich dich
rufe.'
Aber ich muß wieder von dem König und der Königin
erzählen, die mit dem Grafen ausgezogen waren und die Alte
in der Einöde aufsuchen wollten. Der Graf war nachts in
dem Walde von ihnen abgekommen, und mußte allein weitergehen.
Am andern Tag kam es ihm vor, als befände er sich auf dem
rechten Weg. Er ging immer fort, bis die Dunkelheit einbrach,
da stieg er auf einen Baum und wollte da übernachten, denn
er war besorgt, er möchte sich verirren. Als der Mond die
Gegend erhellte, so erblickte er eine Gestalt, die den Berg
herabwandelte. Sie hatte keine Rute in der Hand, aber er konnte
doch sehen, daß es die Gänsehirtin war, die er früher
bei dem Haus der Alten gesehen hatte. 'Oho!, rief er, 'da kommt
sie, und habe ich erst die eine Hexe, so soll mir die andere
auch nicht entgehen.' Wie erstaunte er aber, als sie zu dem
Brunnen trat, die Haut ablegte und sich wusch, als die goldenen
Haare über sie herabfielen, und sie so schön war,
wie er noch niemand auf der Welt gesehen hatte. Kaum daß
er zu atmen wagte, aber er streckte den Hals zwischen dem Laub
so weit vor, als er nur konnte, und schaute sie mit unverwandten
Blicken an. Ob er sich zu weit überbog, oder sonst schuld
war, pIötzlich krachte der Ast, und in demselben Augenblick
schlüpfte das Mädchen in die Haut, sprang wie ein
Reh davon, und da der Mond sich zugleich bedeckte, so war sie
seinen Blicken entzogen.
Kaum war sie verschwunden, so stieg der Graf von dem Baum herab
und eilte ihr mit behenden Schritten nach. Er war noch nicht
lange gegangen, so sah er in der Dämmerung zwei Gestalten
über die Wiese wandeln. Es war der König und die Königin,
die hatten aus der Ferne das Licht in dem Häuschen der
Alten erblickt und waren drauf zugegangen. Der Graf erzählte
ihnen, was er für Wunderdinge bei dem Brunnen gesehen hätte,
und sie zweifelten nicht, daß das ihre verlorene Tochter
gewesen wäre. Voll Freude gingen sie weiter und kamen bald
bei dem Häuschen an: die Gänse saßen ringsherum,
hatten den Kopf in die Flügel gesteckt und schliefen, und
keine regte sich nicht. Sie schauten zum Fenster hinein, da
saß die Alte ganz still und spann, nickte mit dem Kopf
und sah sich nicht um. Es war ganz sauber in der Stube, als
wenn da die kleinen Nebelmännlein wohnten, die keinen Staub
auf den Füßen tragen. Ihre Tochter aber sahen sie
nicht. Sie schauten das alles eine Zeitlang an, endlich faßten
sie sich ein Herz und klopften leise ans Fenster. Die Alte schien
sie erwartet zu haben, sie stand auf und rief ganz freundlich
'nur herein, ich kenne euch schon.' Als sie in die Stube eingetreten
waren, sprach die Alte 'den weiten Weg hättet ihr euch
sparen können, wenn ihr euer Kind, das so gut und liebreich
ist, nicht vor drei Jahren ungerechterweise verstoßen
hättet. Ihr hats nichts geschadet, sie hat drei Jahre lang
die Gänse hüten müssen: sie hat nichts Böses
dabei gelernt, sondern ihr reines Herz behalten. Ihr aber seid
durch die Angst, in der ihr gelebt habt, hinlänglich gestraft.'
Dann ging sie an die Kammer und rief 'komm heraus, mein Töchterchen.'
Da ging die Türe auf, und die Königstochter trat heraus
in ihrem seidenen Gewand mit ihren goldenen Haaren und ihren
leuchtenden Augen, und es war, als ob ein Engel vom Himmel käme.
Sie ging auf ihren Vater und ihre Mutter zu, fiel ihnen um
den Hals und küßte sie: es war nicht anders, sie
mußten alle vor Freude weinen. Der junge Graf stand neben
ihnen, und als sie ihn erblickte, ward sie so rot im Gesicht
wie eine Moosrose; sie wußte selbst nicht warum. Der König
sprach 'liebes Kind, mein Königreich habe ich verschenkt,
was soll ich dir geben?, 'Sie braucht nichts,' sagte die Alte,
'ich schenke ihr die Tränen, die sie um euch geweint hat,
das sind lauter Perlen, schöner, als sie im Meer gefunden
werden, und sind mehr wert als euer ganzes Königreich.
Und zum Lohn für ihre Dienste gebe ich ihr mein Häuschen.'
Als die Alte das gesagt hatte, verschwand sie vor ihren Augen.
Es knatterte ein wenig in den Wänden, und als sie sich
umsahen, war das Häuschen in einen prächtigen Palast
verwandelt, und eine königliche Tafel war gedeckt, und
die Bedienten liefen hin und her.
Die Geschichte geht noch weiter, aber meiner Großmutter,
die sie mir erzählt hat, war das Gedächtnis schwach
geworden: sie hatte das übrige vergessen. Ich glaube immer,
die schöne Königstochter ist mit dem Grafen vermählt
worden, und sie sind zusammen in dem Schloß geblieben
und haben da in aller Glückseligkeit gelebt, solange Gott
wollte. Ob die schneeweißen Gänse, die bei dem Häuschen
gehütet wurden, lauter Mädchen waren (es brauchts
niemand übelzunehmen), welche die Alte zu sich genommen
hatte, und ob sie jetzt ihre menschliche Gestalt wieder erhielten
und als Dienerinnen bei der jungen Königin blieben, das
weiß ich nicht genau, aber ich vermute es doch. Soviel
ist gewiß, daß die Alte keine Hexe war, wie die
Leute glaubten, sondern eine weise Frau, die es gut meinte.
Wahrscheinlich ist sie es auch gewesen, die der Königstochter
schon bei der Geburt die Gabe verliehen hat, Perlen zu weinen
statt der Tränen. Heutzutage kommt das nicht mehr vor,
sonst könnten die Armen bald reich werden.
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