Wilhelm Hauff
Das
Märchen vom falschen Prinzen
Es war einmal ein ehrsamer Schneidergeselle,
namens Labakan, der bei einem geschickten Meister in Alessandria
sein Handwerk lernte. Man konnte nicht sagen, daß Labakan
ungeschickt mit der Nadel war, im Gegenteil, er konnte recht
feine Arbeit machen. Auch tat man ihm unrecht, wenn man ihn
geradezu faul schalt; aber ganz richtig war es doch nicht mit
dem Gesellen, denn er konnte oft stundenweis in einem fort nähen,
daß ihm die Nadel in der Hand glühend ward und der
Faden rauchte, da gab es ihm dann ein Stück wie keinem
anderen; ein andermal aber, und dies geschah leider öfters,
saß er in tiefen Gedanken, sah mit starren Augen vor sich
hin und hatte dabei in Gesicht und Wesen etwas so Eigenes, daß
sein Meister und die übrigen Gesellen von diesem Zustand
nie anders sprachen als: »Labakan hat wieder sein vornehmes
Gesicht.«
Am Freitag aber, wenn andere Leute vom Gebet ruhig nach Haus
an ihre Arbeit gingen, trat Labakan in einem schönen Kleid,
das er sich mit vieler Mühe zusammengespart hatte, aus
der Moschee, ging langsam und stolzen Schrittes durch die Plätze
und Straßen der Stadt, und wenn ihm einer seiner Kameraden
ein »Friede sei mit dir«, oder »Wie geht es,
Freund Labakan?« bot, so winkte er gnädig mit der
Hand oder nickte, wenn es hoch kam, vornehm mit dem Kopf. Wenn
dann sein Meister im Spaß zu ihm sagte: »An dir
ist ein Prinz verlorengegangen, Labakan«, so freute er
sich darüber und antwortete: »Habt Ihr das auch bemerkt?«
oder: »Ich habe es schon lange gedacht!«
So trieb es der ehrsame Schneidergeselle Labakan schon eine
geraume Zeit, sein Meister aber duldete seine Narrheit, weil
er sonst ein guter Mensch und geschickter Arbeiter war. Aber
eines Tages schickte Selim, der Bruder des Sultans, der gerade
durch Alessandria reiste, ein Festkleid zu dem Meister, um einiges
daran verändern zu lassen, und der Meister gab es Labakan,
weil dieser die feinste Arbeit machte. Als abends der Meister
und die Gesellen sich hinwegbegeben hatten, um nach des Tages
Last sich zu erholen, trieb eine unwiderstehliche Sehnsucht
Labakan wieder in die Werkstatt zurück, wo das Kleid des
kaiserlichen Bruders hing. Er stand lange sinnend davor, bald
den Glanz der Stickerei, bald die schillernden Farben des Samts
und der Seide an dem Kleide bewundernd. Er konnte nicht anders,
er mußte es anziehen, und siehe da, es paßte ihm
so trefflich, wie wenn es für ihn wäre gemacht worden.
»Bin ich nicht so gut ein Prinz als einer?« fragte
er sich, indem er im Zimmer auf und ab schritt. »Hat nicht
der Meister selbst schon gesagt, daß ich zum Prinzen geboren
sei?« Mit den Kleidern schien der Geselle eine ganz königliche
Gesinnung angezogen zu haben; er konnte sich nicht anders denken,
als er sei ein unbekannter Königssohn, und als solcher
beschloß er, in die Welt zu reisen und einen Ort zu verlassen,
wo die Leute bisher so töricht gewesen waren, unter der
Hülle seines niederen Standes nicht seine angebotene Würde
zu erkennen. Das prachtvolle Kleid schien ihm von einer gütigen
Fee geschickt, er hütete sich daher wohl, ein so teures
Geschenk zu verschmähen, steckte seine geringe Barschaft
zu sich und wanderte, begünstigt von dem Dunkel der Nacht,
aus Alessandrias Toren.
Der neue Prinz erregte überall auf seiner Wanderschaft
Verwunderung, denn das prachtvolle Kleid und sein ernstes, majestätisches
Wesen wollten gar nicht passen für einen Fußgänger.
Wenn man ihn darüber befragte, pflegte er mit geheimnisvoller
Miene zu antworten, daß das seine eigenen Ursachen habe.
Als er aber merkte, daß er sich durch seine Fußwanderungen
lächerlich machte, kaufte er um geringen Preis ein altes
Roß, welches sehr für ihn paßte, da es ihn
mit seiner gesetzten Ruhe und Sanftmut nie in die Verlegenheit
brachte, sich als geschickter Reiter zeigen zu müssen,
was gar nicht seine Sache war.
Eines Tages, als er Schritt vor Schritt auf seinem Murva, so
hatte er sein Roß genannt,. seine Straße zog, schloß
sich ein Reiter an ihn an und bat ihn, in seiner Gesellschaft
reiten zu dürfen, weil ihm der Weg viel kürzer werde
im Gespräch mit einem anderen. Der Reiter war ein fröhlicher,
junger Mann, schön und angenehm im Umgang. Er hatte mit
Labakan bald ein Gespräch angeknüpft über Woher
und Wohin, und es traf sich, daß auch er, wie der Schneidergeselle,
ohne Plan in die Welt hinauszog. Er sagte, er heiße Omar,
sei der Neffe Elfi Beys, des unglücklichen Bassas von Kairo,
und reise nun umher, um einen Auftrag, den ihm sein Oheim auf
dem Sterbebette erteilt habe, auszurichten. Labakan ließ
sich nicht so offenherzig über seine Verhältnisse
aus, er gab ihm zu verstehen, daß er von hoher Abkunft
sei und zu seinem Vergnügen reise.
Die beiden jungen Herren fanden Gefallen aneinander und zogen
fürder. Am zweiten Tage ihrer gemeinschaftlichen Reise
fragte Labakan seinen Gefährten Omar nach den Aufträgen,
die er zu besorgen habe, und erfuhr zu seinem Erstaunen folgendes:
Elfi Bey, der Bassa von Kairo, hatte den Omar seit seiner frühesten
Kindheit erzogen, und dieser hatte seine Eltern nie gekannt.
Als nun Elfi Bey von seinen Feinden überfallen worden war
und nach drei unglücklichen Schlachten, tödlich verwundet,
fliehen mußte, entdeckte er seinem Zögling, daß
er nicht sein Neffe sei, sondern der Sohn eines mächtigen
Herrschers, welcher aus Furcht vor den Prophezeiungen seiner
Sterndeuter den jungen Prinzen von seinem Hofe entfernt habe,
mit dem Schwur, ihn erst an seinem zweiundzwanzigsten Geburtstage
wiedersehen zu wollen. Elfi Bey habe ihm den Namen seines Vaters
nicht genannt, sondern ihm nur aufs bestimmteste aufgetragen,
am fünften Tage des kommenden Monats Ramadan, an welchem
Tage er zweiundzwanzig Jahre alt werde, sich an der berühmten
Säule El-Serujah, vier Tagreisen östlich von Alessandria,
einzufinden; dort soll er den Männern, die an der Säule
stehen würden, einen Dolch, den er ihm gab, überreichen
mit den Worten: »leer bin ich, den ihr suchet«;
wenn sie antworteten: »Gelobt sei der Prophet, der dich
erhielt!«, so solle er ihnen folgen, sie würden ihn
zu seinem Vater führen.
Der Schneidergeselle Labakan war sehr erstaunt über diese
Mitteilung, er betrachtete von jetzt an den Prinzen Omar mit
neidischen Augen, erzürnt darüber, daß das Schicksal
jenem, obgleich er schon für den Neffen eines mächtigen
Bassa galt, noch die Würde eines Fürstensohnes verliehen,
ihm aber, den es mit allem, was einem Prinzen nottut, ausgerüstet,
gleichsam zum Hohn eine dunkle Geburt und einen gewöhnlichen
Lebensweg verliehen habe. Er stellte Vergleichungen zwischen
sich und dem Prinzen an. Er mußte sich gestehen, es sei
jener ein Mann von sehr vorteilhafter Gesichtsbildung; schöne,
lebhafte Augen, eine kühngebogene Nase, ein sanftes, zuvorkommendes
Benehmen, kurz, so viele Vorzüge des Äußeren,
die jemand empfehlen können, waren jenem eigen. Aber so
viele Vorzüge er auch an seinem Begleiter fand, so gestand
er sich doch bei diesen Beobachtungen, daß ein Labakan
dem fürstlichen Vater wohl noch willkommener sein dürfte
als der wirkliche Prinz.
Diese Betrachtungen verfolgten Labakan den ganzen Tag, mit
ihnen schlief er im nächsten Nachtlager ein, aber als er
morgens aufwachte und sein Blick auf den neben ihm schlafenden
Omar fiel, der so ruhig schlafen und von seinem gewissen Glück
träumen konnte, da erwachte in ihm der Gedanke, sich durch
List oder Gewalt zu erstreben, was ihm das ungünstige Schicksal
versagt hatte. Der Dolch, das Erkennungszeichen des heimkehrenden
Prinzen, sah aus dem Gürtel des Schlafenden hervor, leise
zog er ihn hervor, um ihn in die Brust des Eigentümers
zu stoßen. Doch vor dem Gedanken des Mordes entsetzte
sich die friedfertige Seele des Gesellen; er begnügte sich,
den Dolch zu sich zu stecken, das schnellere Pferd des Prinzen
für sich aufzäumen zu lassen, und ehe Omar aufwachte
und sich aller seiner Hoffnungen beraubt sah, hatte sein treuloser
Gefährte schon einen Vorsprung von mehreren Meilen.
Es war gerade der erste Tag des heiligen Monats Ramadan, an
welchem Labakan den Raub an dem Prinzen begangen hatte, und
er hatte also noch vier Tage, um zu der Säule El Serujah,
welche ihm wohlbekannt war, zu gelangen. Obgleich die Gegend,
worin sich diese Säule befand, höchstens noch zwei
Tagreisen entfernt sein konnte, so beeilte er sich doch hinzukommen,
weil er immer fürchtete, von dem wahren Prinzen eingeholt
zu werden.
Am Ende des zweiten Tages erblickte Labakan die Säule
El-Serujah. Sie stand auf einer kleinen Anhöhe in einer
weiten Ebene und konnte auf zwei bis drei Stunden gesehen werden.
Labakans Herz pochte lauter bei diesem Anblick; obgleich er
die letzten zwei Tage hindurch Zeit genug gehabt, über
die Rolle, die er zu spielen hatte, nachzudenken, so machte
ihn doch das böse Gewissen etwas ängstlich, aber der
Gedanke, daß er zum Prinzen geboren sei, stärkte
ihn wieder, so daß er getrösteter seinem Ziele entgegenging.
Die Gegend um die Säule El-Serujah war unbewohnt und öde,
und der neue Prinz wäre wegen seines Unterhalts etwas in
Verlegenheit gekommen, wenn er sich nicht auf mehrere Tage versehen
hätte. Er lagerte sich also neben seinem Pferd unter einigen
Palmen und erwartete dort sein ferneres Schicksal.
Gegen die Mitte des anderen Tages sah er einen großen
Zug von Pferden und Kamelen über die Ebene her auf die
Säule El-Serujah zuziehen. Der Zug hielt am Fuße
des Hügels, auf welchem die Säule stand, man schlug
prächtige Zelte auf, und das Ganze sah aus wie der Reisezug
eines reichen Bassa oder Scheik. Labakan ahnte, daß die
vielen Leute, welche er sah, sich seinetwegen hierher bemüht
hatten, und hätte ihnen gerne schon heute ihren künftigen
Gebieter gezeigt; aber er mäßigte seine Begierde,
als Prinz aufzutreten, da ja doch der nächste Morgen seine
kühnsten Wünsche vollkommen befriedigen mußte.
Die Morgensonne weckte den überglücklichen Schneider
zu dem wichtigsten Augenblick seines Lebens, welcher ihn aus
einem niederen, unbekannten Sterblichen an die Seite eines fürstlichen
Vaters erheben sollte; zwar fiel ihm, als er sein Pferd aufzäumte,
um zu der Säule hinzureiten, wohl auch das Unrechtmäßige
seines Schrittes ein; zwar führten ihm seine Gedanken den
Schmerz des in seinen schönen Hoffnungen betrogenen Fürstensohnes
vor, aber - der Würfel war geworfen, er konnte nicht mehr
ungeschehen machen, was geschehen war, und seine Eigenliebe
flüsterte ihm zu, daß er stattlich genug aussehe,
um dem mächtigsten König sich als Sohn vorzustellen;
ermutigt durch diesen Gedanken, schwang er sich auf sein Roß,
nahm alle seine Tapferkeit zusammen, um es in einen ordentlichen
Galopp zu bringen, und in weniger als einer Viertelstunde war
er am Fuße des Hügels angelangt. Er stieg ab von
seinem Pferd und band es an eine Staude, deren mehrere an dem
Hügel wuchsen; hierauf zog er den Dolch des Prinzen Omar
hervor und stieg den Hügel hinan. Am Fuß der Säule
standen sechs Männer um einen Greis von hohem, königlichem
Ansehen; ein prachtvoller Kaftan von Goldstoff, mit einem weißen
Kaschmirschal umgürtet, der weiße, mit blitzenden
Edelsteinen geschmückte Turban bezeichneten ihn als einen
Mann von Reichtum und Würde.
Auf ihn ging Labakan zu, neigte sich tief vor ihm und sprach,
indem er den Dolch darreichte: »Hier bin ich, den Ihr
suchet. «
»Gelobt sei der Prophet, der dich erhielt!« antwortete
der Greis mit Freudentränen. »Umarme deinen alten
Vater, mein geliebter Sohn Omar!« Der gute Schneider war
sehr gerührt durch diese feierlichen Worte und sank mit
einem Gemisch von Freude und Scham in die Arme des alten Fürsten.
Aber nur einen Augenblick sollte er ungetrübt die Wonne
seines neuen Standes genießen; als er sich aus den Armen
des fürstlichen Greises aufrichtete, sah er einen Reiter
über die Ebene her auf den Hügel zueilen. Der Reiter
und sein Roß gewährten einen sonderbaren Anblick;
das Roß schien aus Eigensinn oder Müdigkeit nicht
vorwärts zu wollen, in einem stolpernden Gang, der weder
Schritt noch Trab war, zog es daher, der Reiter aber trieb es
mit Händen und Füßen zu schnellerem Laufe an.
Nur zu bald erkannte Labakan sein Roß Murva und den echten
Prinzen Omar, aber der böse Geist der Lüge war einmal
in ihn gefahren, und er beschloß, wie es auch kommen möge,
mit eiserner Stirne seine angemaßten Rechte zu behaupten.
Schon aus der Ferne hatte man den Reiter winken gesehen; jetzt
war er trotz des schlechten Trabes des Rosses Murva am Fuße
des Hügels angekommen, warf sich vom Pferd und stürzte
den Hügel hinan. »Haltet ein!« rief er. »Wer
ihr auch sein möget, haltet ein und laßt euch nicht
von dem schändlichsten Betrüger täuschen; ich
heiße Omar, und kein Sterblicher wage es, meinen Namen
zu mißbrauchen!«
Auf den Gesichtern der Umstehenden malte sich tiefes Erstaunen
über diese Wendung der Dinge; besonders schien der Greis
sehr betroffen, indem er bald den einen, bald den anderen fragend
ansah; Labakan aber sprach mit mühsam errungener Ruhe:
»Gnädigster Herr und Vater, laßt Euch nicht
irremachen durch diesen Menschen da! Es ist, soviel ich weiß,
ein wahnsinniger Schneidergeselle aus Alessandria, Labakan geheißen,
der mehr unser Mitleid als unseren Zorn verdient.«
Bis zur Raserei aber brachten diese Worte den Prinzen; schäumend
vor Wut wollte er auf Labakan eindringen, aber die Umstehenden
warfen sich dazwischen und hielten ihn fest, und der Fürst
sprach: »Wahrhaftig, mein lieber Sohn, der arme Mensch
ist verrückt; man binde ihn und setze ihn auf eines unserer
Dromedare, vielleicht, daß wir dem Unglücklichen
Hilfe schaffen können.«
Die Wut des Prinzen hatte sich gelegt, weinend rief er dem
Fürsten zu: »Mein Herz sagt mir, daß Ihr mein
Vater seid; bei dem Andenken meiner Mutter beschwöre ich
Euch, hört mich an!«
»Ei, Gott bewahre uns!« antwortete dieser, »er
fängt schon wieder an, irre zu reden, wie doch der Mensch
auf so tolle Gedanken kommen kann!« Damit ergriff er Labakans
Arm und ließ sich von ihm den Hügel hinuntergeleiten;
sie setzten sich beide auf schöne, mit reichen Decken behängte
Pferde und ritten an der Spitze des Zuges über die Ebene
hin. Dem unglücklichen Prinzen aber fesselte man die Hände
und band ihn auf einem Dromedar fest, und zwei Reiter waren
ihm immer zur Seite, die ein wachsames Auge auf jede seiner
Bewegungen hatten.
Der fürstliche Greis war Saaud, der Sultan der Wechabiten.
Er hatte lange ohne Kinder gelebt, endlich wurde ihm ein Prinz
geboren, nach dem er sich so lange gesehnt hatte; aber die Sterndeuter,
welche er um die Vorbedeutungen des Knaben befragte, taten den
Ausspruch, »daß er bis ins zweiundzwanzigste Jahr
in Gefahr stehe, von einem Feinde verdrängt zu werden«,
deswegen, um recht sicherzugehen, hatte der Sultan den Prinzen
seinem alten, erprobten Freunde Elfi-Bey zum Erziehen gegeben
und zweiundzwanzig schmerzliche Jahre auf seinen Anblick geharrt.
Dieses hatte der Sultan seinem (vermeintlichen) Sohne erzählt
und sich ihm außerordentlich zufrieden mit seiner Gestalt
und seinem würdevollen Benehmen gezeigt.
Als sie in das Land des Sultans kamen, wurden sie überall
von den Einwohnern mit Freudengeschrei empfangen; denn das Gerücht
von der Ankunft des Prinzen hatte sich wie ein Lauffeuer durch
alle Städte und Dörfer verbreitet. Auf den Straßen,
durch welche sie zogen, waren Bögen von Blumen und Zweigen
errichtet, glänzende Teppiche von allen Farben schmeckten
die Häuser, und das Volk pries laut Gott und seinen Propheten,
der ihnen einen so schönen Prinzen gesandt habe. Alles
dies erfüllte das stolze Herz des Schneiders mit Wonne;
desto unglücklicher mußte sich aber der echte Omar
fühlen, der, noch immer gefesselt, in stiller Verzweiflung
dem Zuge folgte. Niemand kümmerte sich um ihn bei dem allgemeinen
Jubel, der doch ihm galt; den Namen Omar riefen tausend und
wieder tausend Stimmen, aber ihn, der diesen Namen mit Recht
trug, ihn beachtete keiner; höchstens fragte einer oder
der andere, wen man denn so fest gebunden mit fortfahre, und
schrecklich tönte in das Ohr des Prinzen die Antwort seiner
Begleiter, es sei ein wahnsinniger Schneider.
Der Zug war endlich in die Hauptstadt des Sultans gekommen,
wo alles noch glänzender zu ihrem Empfang bereitet war
als in den übrigen Städten. Die Sultanin, eine ältliche,
ehrwürdige Frau, erwartete sie mit ihrem ganzen Hofstaat
in dem prachtvollsten Saal des Schlosses. Der Boden dieses Saales
war mit einem ungeheuren Teppich bedeckt, die Wände waren
mit hellblauem Tuch geschmeckt, das in goldenen Quasten und
Schnüren an großen, silbernen Haken hing.
Es war schon dunkel, als der Zug anlangte, daher waren im Saale
viele kugelrunde, farbige Lampen angezündet, welche die
Nacht zum Tag erhellten. Am klarsten und vielfarbigsten strahlten
sie aber im Hintergrund des Saales, wo die Sultanin auf einem
Throne saß. Der Thron stand auf vier Stufen und war von
lauterem Golde und mit großen Amethysten ausgelegt. Die
vier vornehmsten Emire hielten einen Baldachin von roter Seide
über dem Haupte der Sultanin, und der Scheik von Medina
fächelte ihr mit einer Windfuchtel von weißen Pfauenfedern
Kühlung zu.
So erwartete die Sultanin ihren Gemahl und ihren Sohn, auch
sie hatte ihn seit seiner Geburt nicht mehr gesehen, aber bedeutsam
Träume hatten ihr den Ersehnten gezeigt, daß sie
ihn aus Tausenden erkennen wollte. Jetzt hörte man das
Geräusch des nahenden Zuges, Trompeten und Trommeln mischten
sich in das Zujauchzen der Menge, der Hufschlag der Rosse tönte
im Hof des Palastes, näher und näher rauschten die
Tritte der Kommenden, die Türen des Saales flogen auf,
und durch die Reihen der niederfallenden Diener eilte der Sultan
an der Hand seines Sohnes vor den Thron der Mutter.
»Hier«, sprach er, »bringe ich dir den, nach
welchem du dich so lange gesehnet.«
Die Sultanin aber fiel ihm in die Rede: »Das ist mein
Sohn nicht!« rief sie aus, »das sind nicht die Züge,
die mir der Prophet im Traume gezeigt hat!«
Gerade, als ihr der Sultan ihren Aberglauben verweisen wollte,
sprang die Türe des Saales auf. Prinz Omar stürzte
herein, verfolgt von seinen Wächtern, denen er sich mit
Anstrengung aller seiner Kraft entrissen hatte, er warf sich
atemlos vor dem Throne nieder: »leer will ich sterben,
laßt mich töten, grausamer Vater; denn diese Schmach
dulde ich nicht länger!«
Alles war bestürzt über diese Reden; man drängte
sich um den Unglücklichen her, und schon wollten ihn die
herbeieilenden Wachen ergreifen und ihm wieder seine Bande anlegen,
als die Sultanin, die in sprachlosem Erstaunen dieses alles
mit angesehen hatte, von dem Throne aufsprang. »Haltet
ein!« rief sie, »dieser und kein anderer ist der
Rechte, dieser ist's, den meine Augen nie gesehen und den mein
Herz doch gekannt hat!«
Die Wächter hatten unwillkürlich von Omar abgelassen,
aber der Sultan, entflammt von wütendem Zorn, rief ihnen
zu, den Wahnsinnigen zu binden: »Ich habe hier zu entscheiden«,
sprach er mit gebietender Stimme, »und hier richtet man
nicht nach den Träumen der Weiber, sondern nach gewissen,
untrüglichen Zeichen. Dieser hier (indem er auf Labakan
zeigte) ist mein Sohn; denn er hat mir das Wahrzeichen meines
Freundes Elfi, den Dolch, gebracht.«
»Gestohlen hat er ihn«, schrie Omar, »mein
argloses Vertrauen hat er zum Verrat mißbraucht!«
Der Sultan aber hörte nicht auf die Stimme seines Sohnes;
denn er war in allen Dingen gewohnt, eigensinnig nur seinem
Urteil zu folgen; daher ließ er den unglücklichen
Omar mit Gewalt aus dem Saal schleppen. Er selbst aber begab
sich mit Labakan in sein Gemach, voll Wut über die Sultanin,
seine Gemahlin, mit der er doch seit fünfundzwanzig Jahren
in Frieden gelebt hatte.
Die Sultanin aber war voll Kummer über diese Begebenheiten;
sie war vollkommen überzeugt, daß ein Betrüger
sich des Herzens des Sultans bemächtigt hatte, denn jenen
Unglücklichen hatten ihr so viele bedeutsam Träume
als ihren Sohn gezeigt.
Als sich ihr Schmerz ein wenig gelegt hatte, sann sie auf Mittel,
um ihren Gemahl von seinem Unrecht zu überzeugen. Es war
dies allerdings schwierig; denn jener, der sich für ihren
Sohn ausgab, hatte das Erkennungszeichen, den Dolch, überreicht
und hatte auch, wie sie erfuhr, so viel von Omars früherem
Leben von diesem selbst sich erzählen lassen, daß
er seine Rolle, ohne sich zu verraten, spielte.
Sie berief die Männer zu sich, die den Sultan zu der Säule
El-Serujah begleitet hatten, um sich alles genau erzählen
zu lassen, und hielt dann mit ihren vertrautesten Sklavinnen
Rat. Sie wählten und verwarfen dies und jenes Mittel; endlich
sprach Melechsalah, eine alte, kluge Zierkassierin: »Wenn
ich recht gehört habe, verehrte Gebieterin, so nannte der
Überbringer des Dolches den, welchen du für deinen
Sohn hältst, Labakan, einen verwirrten Schneider?«
»Ja, so ist es«, antwortete die Sultanin, »aber
was willst du damit?«
»Was meint Ihr«, fuhr jene fort, »wenn dieser
Betrüger Eurem Sohn seinen eigenen Namen aufgeheftet hätte?
- Und wenn dies ist, so gibt es ein herrliches Mittel, den Betrüger
zu fangen, das ich Euch ganz im geheimen sagen will.«
Die Sultanin bot ihrer Sklavin das Ohr, und diese flüsterte
ihr einen Rat zu, der ihr zu behagen schien, denn sie schickte
sich an, sogleich zum Sultan zu gehen.
Die Sultanin war eine kluge Frau, welche wohl die schwachen
Seiten des Sultans kannte und sie zu benützen verstand.
Sie schien daher, ihm nachgeben und den Sohn anerkennen zu wollen,
und bat sich nur eine Bedingung aus; der Sultan, dem sein Aufbrausen
gegen seine Frau leid tat, gestand die Bedingung zu, und sie
sprach: »Ich möchte gerne den beiden eine Probe ihrer
Geschicklichkeit auferlegen; eine andere würde sie vielleicht
reiten, fechten oder Speere werfen lassen, aber das sind Sachen,
die ein jeder kann; nein, ich will ihnen etwas geben, wozu Scharfsinn
gehört! Es soll nämlich jeder von ihnen einen Kaftan
und ein Paar Beinkleider verfertigen, und da wollen wir einmal
sehen, wer die schönsten macht.«
Der Sultan lachte und sprach: »Ei, da hast du ja etwas
recht Kluges ausgesonnen. Mein Sohn sollte mit deinem wahnsinnigen
Schneider wetteifern, wer den besten Kaftan macht? Nein, das
ist nichts.«
Die Sultanin aber berief sich darauf, daß er ihr die
Bedingung zum Voraus zugesagt habe, und der Sultan, welcher
ein Mann von Wort war, gab endlich nach, obgleich er schwor,
wenn der wahnsinnige Schneider seinen Kaftan auch noch so schön
mache, könne er ihn doch nicht für seinen Sohn erkennen.
Der Sultan ging selbst zu seinem Sohn und bat ihn, sich in
die Grillen seiner Mutter zu schicken, die nun einmal durchaus
einen Kaftan von seiner Hand zu sehen wünsche. Dem guten
Labakan lachte das Herz vor Freude; wenn es nur an dem fehlt,
dachte er bei sich, da soll die Frau Sultanin bald Freude an
mir erleben.
Man hatte zwei Zimmer eingerichtet, eines für den Prinzen,
das andere für den Schneider; dort sollten sie ihre Kunst
erproben, und man hatte jedem nur ein hinlängliches Stück
Seidenzeug, Schere, Nadel und Faden gegeben.
Der Sultan war sehr begierig, was für ein Ding von Kaftan
wohl sein Sohn zutage fördern werde, aber auch der Sultanin
pochte unruhig das Herz, ob ihre List wohl gelingen werde oder
nicht. Man hatte den beiden zwei Tage zu ihrem Geschäft
ausgesetzt, am dritten ließ der Sultan seine Gemahlin
rufen, und als sie erschienen war, schickte er in jene zwei
Zimmer, um die beiden Kaftane und ihre Verfertiger holen zu
lassen. Triumphierend trat Labakan ein und breitete seinen Kaftan
vor den erstaunten Blicken des Sultans aus. »Siehe her,
Vater«, sprach er, »siehe her, verehrte Mutter,
ob dies nicht ein Meisterstück von einem Kaftan ist? Da
laß ich es mit dem geschicktesten Hofschneider auf eine
Wette ankommen, ob er einen solchen herausbringt.«
Die Sultanin lächelte und wandte sich zu Omar: »Und
was hast du herausgebracht, mein Sohn?« Unwillig warf
dieser den Seidenstoff und die Schere auf den Boden: »Man
hat mich gelehrt, ein Roß zu bändigen und einen Säbel
zu schwingen, und meine Lanze trifft auf sechzig Gänge
ihr Ziel - aber die Künste der Nadel sind mir fremd, sie
wären auch unwürdig für einen Zögling Elfi
Beys, des Beherrschers von Kairo.«
»Oh, du echter Sohn meines Herrn«, rief die Sultanin,
»ach, daß ich dich umarmen, dich Sohn nennen dürfte!
Verzeihet, mein Gemahl und Gebieter«, sprach sie dann,
indem sie sich zum Sultan wandte, »daß ich diese
List gegen Euch gebraucht habe; sehet Ihr jetzt noch nicht ein,
wer Prinz und wer Schneider ist; fürwahr, der Kaftan ist
köstlich, den Euer Herr Sohn gemacht hat, und ich möchte
ihn gerne fragen, bei welchem Meister er gelernt habe.«
Der Sultan saß in tiefen Gedanken, mißtrauisch
bald seine Frau, bald Labakan anschauend, der umsonst sein Erröten
und seine Bestürzung, daß er sich so dumm verraten
habe, zu bekämpfen suchte. »Auch dieser Beweis genügt
nicht«, sprach er, »aber ich weiß, Allah sei
es gedankt, ein Mittel, zu erfahren, ob ich betrogen bin oder
nicht.«
Er befahl, sein schnellstes Pferd vorzufahren, schwang sich
auf und ritt in einen Wald, der nicht weit von der Stadt begann.
Dort wohnte nach einer alten Sage eine gütige Fee, Adolzaide
geheißen, welche oft schon den Königen seines Stammes
in der Stunde der Not mit ihrem Rat beigestanden war; dorthin
eilte der Sultan.
In der Mitte des Waldes war ein freier Platz, von hohen Zedern
umgeben. Dort wohnte nach der Sage die Fee, und selten betrat
ein Sterblicher diesen Platz, denn eine gewisse Scheu davor
hatte sich aus alten Zeiten vom Vater auf den Sohn vererbt.
Als der Sultan dort angekommen war, stieg er ab, band sein
Pferd an einen Baum, stellte sich in die Mitte des Platzes und
sprach mit lauter Stimme: »Wenn es wahr ist, daß
du meinen Vätern gütigen Rat erteiltest in der Stunde
der Not, so verschmähe nicht die Bitte ihres Enkels und
rate mir, wo menschlicher Verstand zu kurzsichtig ist!«
Er hatte kaum die letzten Worte gesprochen, als sich eine der
Zedern öffnete und eine verschleierte Frau in langen, weißen
Gewändern hervortrat. »Ich weiß, warum du zu
mir kommst, Sultan Saaud, dein Wille ist redlich; darum soll
dir auch meine Hilfe werden. Nimm diese zwei Kistchen! Laß
jene beiden, welche deine Söhne sein wollen, wählen!
Ich weiß, daß der, welcher der echte ist, das rechte
nicht verfehlen wird.« So sprach die Verschleierte und
reichte ihm zwei kleine Kistchen von Elfenbein, reich mit Gold
und Perlen verziert; auf den Deckeln, die der Sultan vergebens
zu öffnen versuchte, standen Inschriften von eingesetzten
Diamanten.
Der Sultan besann sich, als er nach Hause ritt, hin und her,
was wohl in den Kistchen sein könnte, welche er mit aller
Mühe nicht zu öffnen vermochte. Auch die Aufschrift
gab ihm kein Licht in der Sache; denn auf dem einen stand: »Ehre
und Ruhm«, auf dem anderen: »Glück und Reichtum«.
Der Sultan dachte bei sich, da würde auch ihm die Wahl
schwer werden unter diesen beiden Dingen, die gleich anziehend,
gleich lockend seien.
Als er in seinen Palast zurückgekommen war, ließ
er die Sultanin rufen und sagte ihr den Ausspruch der Fee, und
eine wunderbare Hoffnung erfüllte sie, daß jener,
zu dem ihr Herz sie hinzog, das Kistchen wählen Würde,
welches seine königliche Abkunft beweisen sollte.
Vor dem Ibrone des Sultans wurden zwei Tische aufgestellt;
auf sie setzte der Sultan mit eigener Hand die beiden Kistchen,
bestieg dann den Thron und winkte einem seiner Sklaven, die
Pforte des Saales zu öffnen. Eine glänzende Versammlung
von Bassas und Emiren des Reiches, die der Sultan berufen hatte,
strömte durch die geöffnete Pforte. Sie ließen
sich auf prachtvollen Polstern nieder, welche die Wände
entlang aufgestellt waren.
Als sie sich alle niedergelassen hatten, winkte der König
zum zweitenmal, und Labakan wurde hereingeführt. Mit stolzem
Schritte ging er durch den Saal, warf sich vor dem Throne nieder
und sprach: »Was befiehlt mein Herr und Vater?«
Der Sultan erhob sich auf seinem Thron und sprach: »Mein
Sohn! Es sind Zweifel an der Echtheit deiner Ansprüche
auf diesen Namen erhoben worden; eines jener Kistchen enthält
die Bestätigung deiner echten Geburt, wähle! Ich zweifle
nicht, du wirst das rechte wählen!«
Labakan erhob sich und trat vor die Kistchen, er erwog lange,
was er wählen sollte, endlich sprach er: »Verehrter
Vater! Was kann es Höheres geben als das Glück, dein
Sohn zu sein, was Edleres als den Reichtum deiner Gnade? Ich
wähle das Kistchen, das die Aufschrift "Gliick und
Reichtum" zeigt.«
»Wir werden nachher erfahren, ob du recht gewählt
hast; einstweilen setze dich dort auf das Polster zum Bassa
von Medina«, sagte der Sultan und winkte seinen Sklaven.
Omar wurde hereingeführt; sein Blick war düster,
seine Miene traurig, und sein Anblick erregte allgemeine Teilnahme
unter den Anwesenden. Er warf sich vor dem Throne nieder und
fragte nach dem Willen des Sultans.
Der Sultan deutete ihm an, daß er eines der Kistchen
zu wählen habe, er stand auf und trat vor den Tisch.
Er las aufmerksam beide Inschriften und sprach: »Die letzten
Tage haben mich gelehrt, wie unsicher das Glück, wie vergänglich
der Reichtum ist; sie haben mich aber auch gelehrt, daß
ein unzerstörbares Gut in der Brust des Tapferen wohnt, die
Ehre, und daß der leuchtende Stern des Ruhmes nicht mit
dem Glück zugleich vergeht. Und sollte ich einer Krone entsagen,
der Würfel liegt - Ehre und Ruhm, ich wähle euch!«
Er setzte seine Hand auf das Kistchen, das er erwählt
hatte; aber der Sultan befahl ihm, einzuhalten; er winkte Labakan,
gleichfalls vor seinen Tisch zu treten, und auch dieser legte
seine Hand auf sein Kistchen.
Der Sultan aber ließ sich ein Becken mit Wasser von dem
heiligen Brunnen Zemzem in Mekka bringen, wusch seine Hände
zum Gebet, wandte sein Gesicht nach Osten, warf sich nieder
und betete: »Gott meiner Väter! Der du seit Jahrhunderten
unsern Stamm rein und unverfälscht bewahrtest, gib nicht
zu, daß ein Unwürdiger den Namen der Abassiden schände,
sei mit deinem Schutze meinem echten Sohne nahe in dieser Stunde
der Prüfung!«
Der Sultan erhob sich und bestieg seinen Thron wieder; allgemeine
Erwartung fesselte die Anwesenden, man wagte kaum zu atmen,
man hätte ein Mäuschen über den Saal gehen hören
können, so still und gespannt waren alle, die hintersten
machten lange Hälse, um über die vorderen nach den
Kistchen sehen zu können. Jetzt sprach der Sultan: »Öffnet
die Kistchen«, und diese, die vorher keine Gewalt zu öffnen
vermochte, sprangen von selbst auf.
In dem Kistchen, das Omar gewählt hatte, lagen auf einem
samtenen Kissen eine kleine goldene Krone und ein Zepter; in
Labakans Kistchen - eine große Nadel und ein wenig Zwirn!
Der Sultan befahl den beiden, ihre Kistchen vor ihn zu bringen.
Er nahm das Krönchen von dem Kissen in seine Hand, und
wunderbar war es anzusehen, wie er es nahm, wurde es größer
und größer, bis es die Größe einer rechten
Krone erreicht hatte. Er setzte die Krone seinem Sohn Omar,
der vor ihm kniete, auf das Haupt, küßte ihn auf
die Stirne und hieß ihn zu seiner Rechten sich niedersetzen.
Zu Labakan aber wandte er sich und sprach: »Es ist ein
altes Sprichwort: Der Schuster bleibe bei seinem Leisten! Es
scheint, als solltest du bei der Nadel bleiben. Zwar hast du
meine Gnade nicht verdient, aber es hat jemand für dich
gebeten, dem ich heute nichts abschlagen kann; drum schenke
ich dir dein armseliges Leben, aber wenn ich dir guten Rates
bin, so beeile dich, daß du aus meinem Lande kommst!«
Beschämt, vernichtet, wie er war, vermochte der arme Schneidergeselle
nichts zu erwidern; er warf sich vor dem Prinzen nieder, und
Tränen drangen ihm aus den Augen: »Könnt Ihr
mir vergeben, Prinz?« sagte er.
»Treue gegen den Freund, Großmut gegen den Feind
ist des Abassiden Stolz«, antwortete der Prinz, indem
er ihn aufhob, »gehe hin in Frieden!«
»O du mein echter Sohn!« rief gerührt der
alte Sultan und sank an die Brust des Sohnes; die Emire und
Bassa und alle Großen des Reiches standen auf von ihren
Sitzen und riefen: »Heil dem neuen Königssohn!«
Und unter dem allgemeinen Jubel schlich sich Labakan, sein Kistchen
unter dem Arm, aus dem Saal.
Er ging hinunter in die Ställe des Sultans, zäumte
sein Roß Murva auf und ritt zum Tore hinaus, Alessandria
zu. Sein ganzes Prinzenleben kam ihm wie ein Traum vor, und
nur das prachtvolle Kistchen, reich mit Perlen und Diamanten
geschmückt, erinnerte ihn, daß er doch nicht geträumt
habe.
Als er endlich wieder nach Alessandria kam, ritt er vor das
Haus seines alten Meisters, stieg ab, band sein Rößlein
an die Türe und trat in die Werkstatt. Der Meister, der
ihn nicht gleich kannte, machte ein großes Wesen und fragte,
was ihm zu Dienst stehe; als er aber den Gast näher ansah
und seinen alten Labakan erkannte, rief er seine Gesellen und
Lehrlinge herbei, und alle stürzten sich wie wütend
auf den armen Labakan, der keines solchen Empfangs gewärtig
war, stießen und schlugen ihn mit Bügeleisen und
Ellenmaß, stachen ihn mit Nadeln und zwickten ihn mit
scharfen Scheren, bis er erschöpft auf einen Haufen alter
Kleider niedersank.
Als er nun so dalag, hielt ihm der Meister eine Strafrede über
das gestohlene Kleid; vergebens versicherte Labakan, daß
er nur deswegen wiedergekommen sei, um ihm alles zu ersetzen,
vergebens bot er ihm den dreifachen Schadenersatz, der Meister
und seine Gesellen fielen wieder über ihn her, schlugen
ihn weidlich und warfen ihn zur Türe hinaus; zerschlagen
und zerfetzt stieg er auf das Roß Murva und ritt in eine
Karawanserei. Dort legte er sein müdes, zerschlagenes Haupt
nieder und stellte Betrachtungen an über die Leiden der
Erde, über das so oft verkannte Verdienst und über
die Nichtigkeit und Flüchtigkeit aller Güter. Er schlief
mit dem Entschluß ein, aller Größe zu entsagen
und ein ehrsamer Bürger zu werden.
Und den andere Tag gereute ihn sein Entschluß nicht;
denn die schweren Hände des Meisters und seiner Gesellen
schienen alle Hoheit aus ihm herausgeprügelt zu haben.
Er verkaufte um einen hohen Preis sein Kistchen an einen Juwelenhändler,
kaufte sich ein Haus und richtete sich eine Werkstatt zu seinem
Gewerbe ein. Als er alles eingerichtet und auch ein Schild mit
der Aufschrift Labakan, Kleidermacher vor sein Fenster gehängt
hatte, setzte er sich und begann mit jener Nadel und dem Zwirn,
die er in dem Kistchen gefunden, den Rock zu flicken, welchen
ihm sein Meister so grausam zerfetzt hatte. Er wurde von seinem
Geschäft abgerufen, und als er sich wieder an die Arbeit
setzen wollte, welch sonderbarer Anblick bot sich ihm dar! Die
Nadel nähte emsig fort, ohne von jemand geführt zu
werden; sie machte feine, zierliche Stiche, wie sie selbst Labakan
in seinen kunstreichsten Augenblicken nicht gemacht hatte!
Wahrlich, auch das geringste Geschenk einer gütigen Fee
ist nützlich und von großem Wert! Noch einen andere
Wert hatte aber dies Geschenk, nämlich: Das Stückchen
Zwirn ging nie aus, die Nadel mochte so fleißig sein,
als sie wollte.
Labakan bekam viele Kunden und war bald der berühmteste
Schneider weit und breit; er schnitt die Gewänder zu und
machte den ersten Stich mit der Nadel daran, und flugs arbeitete
diese weiter ohne Unterlaß, bis das Gewand fertig war.
Meister Labakan hatte bald die ganze Stadt zu Kunden; denn er
arbeitete schön und außerordentlich billig, und nur
über eines schüttelten die Leute von Alessandria den
Kopf, nämlich: daß er ganz ohne Gesellen und bei
verschlossenen Türen arbeitete.
So war der Spruch des Kistchens, Glück und Reichtum verheißend,
in Erfüllung gegangen; Glück und Reichtum begleiteten,
wenn auch in bescheidenem Maße, die Schritte des guten
Schneiders, und wenn er von dem Ruhm des jungen Sultans Omar,
der in aller Munde lebte, hörte, wenn er hörte, daß
dieser Tapfere der Stolz und die Liebe seines Volkes und der
Schrecken seiner Feinde sei, da dachte der ehemalige Prinz bei
sich: »Es ist doch besser, daß ich ein Schneider
geblieben bin; denn um die Ehre und den Ruhm ist es eine gar
gefährliche Sache.« So lebte Labakan, zufrieden mit
sich, geachtet von seinen Mitbürgern, und wenn die Nadel
indes nicht ihre Kraft verloren, so näht sie noch jetzt
mit dem ewigen Zwirn der gütigen Fee Adolzaide.
Mit Sonnenaufgang brach die Karawane auf und gelangte bald
nach Birket el Had oder dem Pilgrimsbrunnen, von wo es nur noch
drei Stunden Weges nach Kairo waren - Man hatte um diese Zeit
die Karawane erwartet, und bald hatten die Kaufleute die Freude,
ihre Freunde aus Kairo ihnen entgegenkommen zu sehen. Sie zogen
in die Stadt durch das Tor Bebel Falch; denn es wird für
eine glückliche Vorbedeutung gehalten, wenn man von Mekka
kommt, durch dieses Tor einzuziehen, weil der Prophet hindurchgezogen
ist.
Auf dem Markt verabschiedeten sich die vier türkischen
Kaufleute von dem Fremden und dem griechischen Kaufmann Zaleukos
und gingen mit ihren Freunden nach Haus. Zaleukos aber zeigte
dem Fremden eine gute Karawanserei und lud ihn ein, mit ihm
das Mittagsmahl zu nehmen. Der Fremde sagte zu und versprach,
wenn er nur vorher sich umgekleidet habe, zu erscheinen.
Der Grieche hatte alle Anstalten getroffen, den Fremden, welchen
er auf der Reise liebgewonnen hatte, gut zu bewirten, und als
die Speisen und Getränke in gehöriger Ordnung aufgestellt
waren, setzte er sich, seinen Gast zu erwarten.
Langsam und schweren Schrittes hörte er ihn den Gang,
der zu seinem Gemach führte, heraufkommen. Er erhob sich,
um ihm freundlich entgegenzusehen und ihn an der Schwelle zu
bewillkommnen; aber voll Entsetzen fuhr er zurück, als
er die Türe öffnete; denn jener schreckliche Rotmantel
trat ihm entgegen; er warf noch einen Blick auf ihn, es war
keine Täuschung; dieselbe hohe, gebietende Gestalt, die
Larve, aus welcher ihn die dunklen Augen anblitzten, der rote
Mantel mit der goldenen Stickerei waren ihm nur allzuwohl bekannt
aus den schrecklichsten Stunden seines Lebens.
Widerstreitende Gefühle wogten in Zaleukos Brust; er hatte
sich mit diesem Bild seiner Erinnerung längst ausgesöhnt
und ihm vergeben, und doch riß sein Anblick alle seine
Wunden wieder auf; alle jene qualvollen Stunden der Todesangst,
jener Gram, der die Blüte seines Lebens vergiftete, zogen
im Flug eines Augenblicks an seiner Seele vorüber.
»Was willst du, Schrecklicher?« rief der Grieche
aus, als die Erscheinung noch immer regungslos auf der Schwelle
stand. »Weiche schnell von hinnen, daß ich dir nicht
fluche!«
»Zaleukos!« sprach eine bekannte Stimme unter der
Larve hervor. »Zaleukos! So empfängst du deinen Gastfreund?«
Der Sprechende nahm die Larve ab, schlug den Mantel zurück;
es war Selim Baruch, der Fremde.
Aber Zaleukos schien noch nicht beruhigt, ihm graute vor dem
Fremden; denn nur zu deutlich hatte er in ihm den Unbekannten
von der Ponte vecchio erkannt; aber die alte Gewohnheit der
Gastfreundschaft siegte; er winkte schweigend dem Fremden, sich
zu ihm ans Mahl zu setzen.
»Ich errate deine Gedanken«, nahm dieser das Wort,
als sie sich gesetzt hatten. »Deine Augen sehen fragend
auf mich - ich hätte schweigen und mich deinen Blicken
nie mehr zeigen können, aber ich bin dir Rechenschaft schuldig,
und darum wagte ich es auch, auf die Gefahr hin, daß du
mir fluchtest, vor dir in meiner alten Gestalt zu erscheinen.
Du sagtest einst zu mir: Der Glaube meiner Väter befiehlt
mir, ihn zu lieben, auch ist er wohl unglücklicher als
ich; glaube dieses, mein Freund, und höre meine Rechtfertigung!
Ich muß weit ausholen, um mich dir ganz verständlich
zu machen. Ich bin in Alessandria von christlichen Eltern geboren.
Mein Vater, der jüngere Sohn eines alten, berühmten
französischen Hauses, war Konsul seines Landes in Alessandria.
Ich wurde von meinem zehnten Jahre an in Frankreich bei einem
Bruder meiner Mutter erzogen und verließ erst einige Jahre
nach dem Ausbruch der Revolution mein Vaterland, um mit meinem
Oheim, der in dem Lande seiner Ahnen nicht mehr sicher war,
über dem Meer bei meinen Eltern eine Zuflucht zu suchen.
Voll Hoffnung, die Ruhe und den Frieden, den uns das empörte
Volk der Franzosen entrissen, im elterlichen Hause wiederzufinden,
landeten wir. Aber ach! Ich fand nicht alles in meines Vaters
Hause, wie es sein sollte; die äußeren Stürme
der bewegten Zeit waren zwar noch nicht bis hierher gelangt,
desto unerwarteter hatte das Unglück mein Haus im innersten
Herzen heimgesucht. Mein Bruder, ein junger, hoffnungsvoller
Mann, erster Sekretär meines Vaters, hatte sich erst seit
kurzem mit einem jungen Mädchen, der Tochter eines florentinischen
Edelmanns, der in unserer Nachbarschaft wohnte, verheiratet;
zwei Tage vor unserer Ankunft war diese auf einmal verschwunden,
ohne daß weder unsere Familie noch ihr Vater die geringste
Spur von ihr auffinden konnten. Man glaubte endlich, sie habe
sich auf einem Spaziergang zu weit gewagt und sei in Räuberhände
gefallen. Beinahe tröstlicher wäre dieser Gedanke
für meinen armen Bruder gewesen als die Wahrheit, die uns
nur bald kund wurde. Die Treulose hatte sich mit einem jungen
Neapolitaner, den sie im Hause ihres Vaters kennengelernt hatte,
eingeschifft. Mein Bruder, aufs äußerste empört
über diesen Schritt, bot alles auf, die Schuldige zur Strafe
zu ziehen; doch vergebens; seine Versuche, die in Neapel und
Florenz Aufsehen erregt hatten, dienten nur dazu, sein und unser
aller Unglück zu vollenden. Der florentinische Edelmann
reiste in sein Vaterland zurück, zwar mit dem Vorgeben,
meinem Bruder Recht zu verschaffen, der Tat nach aber, um uns
zu verderben. Er schlug in Florenz alle jene Untersuchungen,
welche mein Bruder angeknüpft hatte, nieder und wußte
seinen Einfluß, den er auf alle Art sich verschafft hatte,
so gut zu benützen, daß mein Vater und mein Bruder
ihrer Regierung verdächtig gemacht und durch die schändlichsten
Mittel gefangen, nach Frankreich geführt und dort vom Beil
des Henkers getötet wurden. Meine arme Mutter verfiel in
Wahnsinn, und erst nach zehn langen Monaten erlöste sie
der Tod von ihrem schrecklichen Zustand, der aber in den letzten
Tagen zu vollem, klarem Bewußtsein geworden war. So stand
ich jetzt ganz allein in der Welt, aber nur ein Gedanke beschäftigte
meine Seele, nur ein Gedanke ließ mich meine Trauer vergessen,
es war jene mächtige Flamme, die meine Mutter in ihrer
letzten Stunde in mir angefacht hatte.
In den letzten Stunden war, wie ich dir sagte, ihr Bewußtsein
zurückgekehrt; sie ließ mich rufen und sprach mit
Ruhe von unserem Schicksal und ihrem Ende. Dann aber ließ
sie alle aus dem Zimmer gehen, richtete sich mit feierlicher
Miene von ihrem ärmlichen Lager auf und sagte, ich könne
mir ihren Segen erwerben, wenn ich ihr schwöre, etwas auszufahren,
das sie mir auftragen würde - Ergriffen von den Worten
der sterbenden Mutter, gelobte ich mit einem Eide zu tun, wie
sie mir sagen werde. Sie brach nun in Verwünschungen gegen
den Florentiner und seine Tochter aus und legte mir mit den
fürchterlichsten Drohungen ihres Fluches auf, mein unglückliches
Haus an ihm zu rächen. Sie starb in meinen Armen. Jener
Gedanke der Rache hatte schon lange in meiner Seele geschlummert;
jetzt erwachte er mit aller Macht. Ich sammelte den Rest meines
väterlichen Vermögens und schwor mir, alles an meine
Rache zu setzen oder selbst mit unterzugehen.
Bald war ich in Florenz, wo ich mich so geheim als möglich
aufhielt; mein Plan war um vieles erschwert worden durch die
Lage, in welcher sich meine Feinde befanden. Der alte Florentiner
war Gouverneur geworden und hatte so alle Mittel in der Hand,
sobald er das geringste ahnte, mich zu verderben. Ein Zufall
kam mir zu Hilfe. Eines Abends sah ich einen Menschen in bekannter
Livree durch die Straßen gehen; sein unsicherer Gang,
sein finsterer Blick und das halblaut herausgestoßene
»Santo sacramento«, »Maledetto diavolo«
ließen mich den alten Pietro, einen Diener des Florentiners,
den ich schon in Alessandria gekannt hatte, erkennen. Ich war
nicht in Zweifel, daß er über seinen Herrn in Zorn
geraten sei, und beschloß, seine Stimmung zu benützen.
Er schien sehr überrascht, mich hier zu sehen, klagte mir
sein Leiden, daß er seinem Herrn, seit er Gouverneur geworden,
nichts mehr recht machen könne, und mein Gold, unterstützt
von seinem Zorn, brachte ihn bald auf meine Seite. Das Schwierigste
war jetzt beseitigt; ich hatte einen Mann in meinem Solde, der
mir zu jeder Stunde die Türe meines Feindes öffnete,
und nun reifte mein Racheplan immer schneller heran. Das Leben
des alten Florentiners schien mir ein zu geringes Gewicht, dem
Untergang meines Hauses gegenüber, zu haben. Sein Liebstes
mußte er gemordet sehen, und dies war Bianka, seine Tochter.
Hatte ja sie so schändlich an meinem Bruder gefrevelt,
war ja doch sie die Ursache unseres Unglücks. Gar erwünscht
kam sogar meinem rachedürstigen Herzen die Nachricht, daß
in dieser Zeit Bianka zum zweitenmal sich vermählen wollte,
es war beschlossen, sie mußte sterben. Aber mir selbst
graute vor der Tat, und auch Pietro traute sich zu wenig Kraft
zu; darum spähten wir umher nach einem Mann, der das Geschäft
vollbringen könne. Unter den Florentinern wagte ich keinen
zu dingen, denn gegen den Gouverneur würde keiner etwas
Solches unternommen haben. Da fiel Pietro der Plan ein, den
ich nachher ausgeführt habe; zugleich schlug er dich als
Fremden und Arzt als den Tauglichsten vor. Den Verlauf der Sache
weißt du. Nur an deiner großen Vorsicht und Ehrlichkeit
schien mein Unternehmen zu scheitern. Daher der Zufall mit dem
Mantel.
Pietro öffnete uns das Pförtchen an dem Palast des
Gouverneurs; er hätte uns auch ebenso heimlich wieder hinausgeleitet,
wenn wir nicht, durch den schrecklichen Anblick, der sich uns
durch die Türspalte darbot, erschreckt, entflohen wären.
Von Schrecken und Reue gejagt, war ich über zweihundert
Schritte fortgerannt, bis ich auf den Stufen einer Kirche niedersank.
Dort erst sammelte ich mich wieder, und mein erster Gedanke
warst du und dein schreckliches Schicksal, wenn man dich in
dem Hause fände. Ich schlich an den Palast, aber weder
von Pietro noch von dir konnte ich eine Spur entdecken; das
Pförtchen aber war offen, so konnte ich wenigstens hoffen,
daß du die Gelegenheit zur Flucht benützt haben könntest.
Als aber der Tag anbrach, ließ mich die Angst vor der
Entdeckung und ein unabweisbares Gefühl von Reue nicht
mehr in den Mauern von Florenz. Ich eilte nach Rom. Aber denke
dir meine Bestürzung, als man dort nach einigen Tagen überall
diese Geschichte erzählte mit dem Beisatz, man habe den
Mörder, einen griechischen Arzt, gefangen. Ich kehrte in
banger Besorgnis nach Florenz zurück; denn schien mir meine
Rache schon vorher zu stark, so verfluchte ich sie jetzt, denn
sie war mir durch dein Leben allzu teuer erkauft. Ich kam an
demselben Tage an, der dich der Hand beraubte. Ich schweige
von dem, was ich fühlte, als ich dich das Schafott besteigen
und so heldenmütig leiden sah. Aber damals, als dein Blut
in Strömen aufspritzte, war der Entschluß fest in
mir, dir deine übrigen Lebenstage zu versüßen.
Was weiter geschehen ist, weißt du, nur das bleibt mir
noch zu sagen übrig, warum ich diese Reise mit dir machte.
Als eine schwere Last drückte mich der Gedanke, daß
du mir noch immer nicht vergeben habest; darum entschloß
ich mich, viele Tage mit dir zu leben und dir endlich Rechenschaft
abzulegen von dem, was ich mit dir getan.«
Schweigend hatte der Grieche seinen Gast angehört; mit
sanftem Blick bot er ihm, als er geendet hatte, seine Rechte.
»Ich wußte wohl, daß du unglücklicher
sein müßtest als ich, denn jene grausame Tat wird
wie eine dunkle Wolke ewig deine Tage verfinstern; ich vergebe
dir von Herzen. Aber erlaube mir noch eine Frage: Wie kommst
du unter dieser Gestalt in die Wüste? Was fingst du an,
nachdem du in Konstantinopel mir das Haus gekauft hattest?«
»ich ging nach Alessandria zurück«, antwortete
der Gefragte . »Haß gegen alle Menschen tobte in
meiner Brust, brennender Haß besonders gegen jene Nationen,
die man die gebildeten nennt. Glaube mir, unter meinen Moslemiten
war mir wohler! Kaum war ich einige Monate in Alessandria, als
jene Landung meiner Landsleute erfolgte.
Ich sah in ihnen nur die Henker meines Vaters und meines Bruders;
darum sammelte ich einige gleichgesinnte junge Leute meiner
Bekanntschaft und schloß mich jenen tapferen Mamelucken
an, die so oft der Schrecken des französischen Heeres wurden.
Als der Feldzug beendigt war, konnte ich mich nicht entschließen,
zu den Künsten des Friedens zurückzukehren. Ich lebte
mit einer kleinen Anzahl gleichdenkender Freunde ein unstetes
und flüchtiges, dem Kampf und der Jagd geweihtes Leben;
ich lebe zufrieden unter diesen Leuten, die mich wie ihren Fürsten
ehren; denn wenn meine Asiaten auch nicht so gebildet sind wie
Eure Europäer, so sind sie doch weit entfernt von Neid
und Verleumdung, von Selbstsucht und Ehrgeiz.«
Zaleukos dankte dem Fremden für seine Mitteilung, aber
er verbarg ihm nicht, daß er es für seinen Stand,
für seine Bildung angemessener fände, wenn er in christlichen,
in europäischen Ländern leben und wirken würde.
Er faßte seine Hand und bat ihn, mit ihm zu ziehen, bei
ihm zu leben und zu sterben.
Gerührt sah ihn der Gastfreund an. »Daraus erkenne
ich«, sagte er, »daß du mir ganz vergeben
hast, daß du mich liebst. Nimm meinen innigsten Dank dafür!«
Er sprang auf und stand in seiner ganzen Größe vor
dem Griechen, dem vor dem kriegerischen Anstand, den dunkel
blitzenden Augen, der tiefen Stimme seines Gastes beinahe graute.
»Dein Vorschlag ist schön«, sprach jener weiter,
»er möchte für jeden andern lockend sein - ich
kann ihn nicht benützen. Schon steht mein Roß gesattelt,
erwarten mich meine Diener; lebe wohl, Zaleukos!« Die
Freunde, die das Schicksal so wunderbar zusammengeführt,
umarmten sich zum Abschied. »Und wie nenne ich dich? Wie
heißt mein Gastfreund, der auf ewig in meinem Gedächtnis
leben wird?« fragte der Grieche.
Der Fremde sah ihn lange an, drückte ihm noch einmal die
Hand und sprach: »Man nennt mich den Herrn der Wüste;
ich bin der Räuber Orbasan.«
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